Ex Oriente

Der Beruf des „Tekton“ im Orient

 • Hausbau im Tur Abdin •
E&E 24 S.2-4 2019 

Der Beruf des „Tekton“ im Orient

Im Evangelium wird Jesus als «der Sohn des Tekton» (Mtth. 13, 55) und auch selber als «Tekton» (Mc. 6, 3) bezeichnet. Das Wort „téktōn“ wird ins Deutsche üblicherweise mit „Zimmermann“ übersetzt. Und so sieht man auf deutschen Bildern der Heiligen Familie oft eine Werkstatt mit Säge und Hobel.
Aber Joseph war kein Schreiner, er war Tekton. Was aber war die Arbeit eines Tekton im alten Galiläa?
Da unmittelbare Zeugen nicht mehr befragt werden können, habe ich versucht, einer Antwort näherzukommen, indem ich Aramäer aus einer benachbarten Landschaft gefragt habe. Hier folgt deren Darstellung.
W.H.W.
 
Die Kirche Mor Dimet im Dorf Zaz, Tur Abdin. Der Bogengang wurde laut Inschrift im Jahre 1927 neu errichtet.
Thomas Saume

Hausbau im Tur Abdin

Im Südosten der heutigen Türkei, im ehemaligen Mesopotamien (aramäisch: „Beth Nahrin“), liegt der „Tur Abdin“ (aus dem Aramäischen; zu deutsch: Berg der Knechte [Gottes]). Zum Tur Abdin gehört etwa die Fläche zwischen den Städten Mardin, Midyat, Cizre und Nusaybin (dem alten Nisibis). Der Tur Abdin wurde schon in den ersten Jahrhunderten nach Christus christianisiert. Noch vor etwas mehr als 70 Jahren bildeten die christlichen, meist syrisch-orthodoxen Aramäer (Selbstbezeichnung: „Suryoye“) die ethnische Mehrheit in diesem Gebiet. Ab den 1950er Jahren wagten sie aufgrund politischer Verfolgung und Perspektivlosigkeit durch Arbeitsmangel den großen Exodus in den Westen, so daß heute nur noch rund 3000 Aramäer dort leben.
Bis heute sind im Tur Abdin viele Dörfer, Häuser, Kirchen sowie Klöster, teils bewohnt, teils verlassen, zu bewundern. Die meisten Bauten der dortigen Bevölkerung wurden nach einer sehr alten Tradition des Hausbaus (genannt: „Kefo u Kalsho“; zu deutsch: Stein und Kalk) mittels Baukalk und weißem Steinstaub gebaut.
Hergestellt wurde der Baukalk mit einem Ofen, der auf aramäisch „Atuno“ genannt wird. Die Vorbereitung beginnt etwa einen Monat vor der eigentlichen Brennung der Kalksteine mit dem Sammeln von Holz (möglichst Eichenholz). Je nach Größe des Ofens sind verschieden große Mengen Holz nötig, die nach dem Sammeln zum trocknen gelegt werden.
Nachdem das Holz gesammelt wurde, machen sich die Arbeiter auf den Weg und sammeln große weiße Kalksteine. Mit diesen Kalksteinen wird dann eine Art Ofen in Form eines Hauses gebaut: der Atuno. Der Atuno sollte idealerweise zwei Meter tief sein. Länge, Breite und Höhe sind je nach dem, wieviel Baukalk benötigt wird, variabel. Der Boden und die Wände bestehen komplett aus den gesammelten Kalksteinen. An zwei Wänden des Atuno müssen große Öffnungen eingebaut sein, um den Holznachschub, für den pro Öffnung jeweils zwei Arbeiter zuständig waren, zu regeln. Im Atuno wird das gesammelte Holz nach und nach verbrannt, sodass die Wände bzw. die Steine mit der Zeit schmelzen, zu Baukalk werden und in sich zusammenfallen. Dieser Prozess kann je nach äußeren Umständen mehrere Tage dauern.
Danach werden übergebliebene, nicht geschmolzene Steine grob mit der Hand aus dem Baukalk gefiltert und mit weißem Steinstaub, „noqurto“ genannt, verarbeitet. Noqurto wird aus weißen, großen Felsen geschlagen und heutzutage durch den Sand ersetzt, der mit dem Zement vermischt wird. Vermischt wird ein Drittel Baukalk und zwei Drittel Steinstaub. Das Endprodukt wird anstelle des heutzutage benutzten Mörtels verwendet.
Der Gebrauch vom traditionellen Baukalk bringt viele Vorteile mit sich: Stabilität des Hauses, lange Haltbarkeit, eine schöne Farbe sowie einen natürlichen Geruch.
Die Hauptzeit für die Nutzung eines Atuno ist in den Monaten September bis Dezember.
Der Verkauf von fertigem Baukalk und Holzkohle brachte den Dorfbewohnern auch Geld ein.
In der syrischen Bibel wird der Begriff Atuno auch anstelle des Ofens in Daniel 3:19, mit dem König Nebukadnezar Schadrach, Meschach und Abednego verbrennen lassen wollte, genannt.
Der syrisch-orthodoxe Aramäer und „Atuno-Arbeiter“ Lahdo Kilic, geboren 1942 in Temerz, Tur Abdin, wohnhaft heute in Hamburg, von dem die genannten Informationen stammen, nutzte das letzte Mal im Jahre 1966 einen Atuno. Dieser sei unter anderem für sein eigenes Haus gewesen, welches er aufgrund seiner kurz darauf folgenden Auswanderung nach Deutschland jedoch nicht fertigstellte.
In neueren Bauten im Tur Abdin wurde der traditionell verwendete Baukalk größtenteils durch üblichen Mörtel ersetzt. Historische Bauten wie Kirchen und Klöster werden oft jedoch weiterhin mit Baukalk restauriert.
 
Aus dem Kloster Mor Malke. Hier deutlich sichtbar: Der Kontrast zwischen dem neu erbauten Boden und der alten Wände und Arkarden.
 
Aus dem Kloster Mor Gabriel (gegründet 397 nach Christus). Ebenso deutlich sichtbar: Der Kontrast zwischen dem neu erbauten Boden und der alten Wände und Arkarden.
 
Ein ruiniertes Haus im Dorf Zaz, Tur Abdin

Orietur Occidens